TARPSY – Fakten zum Mehrwert tun noch not
Das Thema «Regulierung und Administrierung des Gesundheitswesens» kann aus Sicht Psychiatrie mit einem ganz aktuellen Beispiel aufgezeigt werden. Die Psychiatrie hat 2019 das zweite Jahr unter Anwendung von TARPSY hinter sich gebracht. In einer Reihe von Umsetzungen im Sog der Überarbeitung des KVG 2007 setzte die Schweizer Gesundheitspolitik unter anderem auf die eigene Entwicklung eines weltweit neuen Fallpauschalensystems für die Psychiatrie namens TARPSY. Damit folgte SwissDRG dem gesetzlichen Auftrag, bei der stationären Versorgung nationale, standardisierte und leistungsbezogene Tarifstrukturen einzuführen (KVG Art. 49 Abs. 1). Laut Art. 3 der Statuten von SwissDRG sollen die Tarifstrukturen jeweils dem medizinischen Stand entsprechen. Sechs Jahre nach Einführung der DRGs für die Somatik im Jahr 2012 war es 2018 dann soweit: TARPSY wurde in den stationären psychiatrischen Organisationen zum neuen Abrechnungsstandard.
Bedeutender Mehraufwand in der Administration
Wo stehen wir nun nach zwei Jahren Praxiserfahrung? Dazu gibt es eine Vielfalt von Meinungen – bestimmt auch konträre – jedoch nur wenige Fakten, die auf einer umfassenden Evaluation basieren. Deshalb lassen sich kaum belegbare Aussagen machen. Empirisch bestehen dennoch gewisse Hinweise. So kann allgemein festgestellt werden, dass es schweizweit zu einem bedeutenden Mehraufwand in der Administration gekommen ist. Das ist nun keine überraschende Feststellung und beinhaltet einen analogen Effekt, wie er unter DRG in der Somatik aufgetreten ist.
Standardisierung ist eine Form der Regulation und birgt die Notwendigkeit, alle Leistungserbringer auf den gleichen Pfad einer einheitlichen Leistungserfassung und -abrechnung zu bringen und dort zu halten. Der Weg dorthin kostet die Organisationen erhebliche Anstrengungen. Sei es in der Umstellung der administrativen Prozesse mit oder ohne neue IT-Systeme, sei es, neue Funktionen und Aufgaben im Betrieb zu etablieren, notwendiges, zusätzliches Know-how aufzubauen und das Personal zu schulen. Auf dem Weg zu bleiben, die fortlaufenden Entwicklungen einzubeziehen und das System zu pflegen, all dies führt nach den Investitionskosten für den Aufbau zu einem zusätzlichen Fixkostensatz. TARPSY hat somit auf den ersten Blick keine Effizienz in das System gebracht und schon gar nicht Kosten gesenkt.
Das Ziel gemäss SwissDRG lautete, ein einfaches und praktikables System anzubieten, das einen geringen Datenerhebungs- und Dokumentationsaufwand erfordert, eine überschaubare Anzahl psychiatrischer Kostengruppen (PCG) enthält und somit weniger ausdifferenziert ist als das DRG-System. Damit wird die Leistungsabrechnung unweigerlich weniger genau. Dennoch soll gleichzeitig das ebenfalls gesetzte Ziel der Kostendeckung, das heisst, eine entsprechend vollständig abbildbare Leistung mit den Abrechnungsstrukturen, erreicht werden können. Aus Sicht einer Spezialklinik, die mit der zweiten Grouper-Version 2.0 inzwischen nur noch eine PCG abrechnet, stellt sich die Frage, wie das lernende System, ein weiteres Ziel bei der Tarifstrukturen-Entwicklung, dies je bewerkstelligen kann. Mit dem grossen Mehraufwand an administrativen Arbeiten besteht in solchen Fällen die Gefahr, dass das System seine Ziele nicht erreicht.
Weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten
Was sich zusätzlich stark bemerkbar macht, ist die Veränderung der Aufgabenschwerpunkte bei Ärztinnen, Ärzten, Pflegefachpersonen und Therapeutinnen, Therapeuten, die früher keine direkte Leistungsabrechnung durchführen mussten. So ist im Alltag der administrative Anteil an Aufgaben gewachsen und die Zeit für die Patientinnen und Patienten dagegen geschrumpft. Die Attraktivität und die Arbeitszufriedenheit dieser Berufsgruppen haben dadurch abgenommen. Umfragen von Unia1 und FMH2 stützen diese These. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir in der Psychiatrie nachweislich einen akuten Mangel an Fachkräften haben, ist dieser Umstand alarmierend. Wir verschwenden kostbare Ressourcen, die jahrelang ausgebildet und volkswirtschaftlich getragen wurden, damit sie nachher in der Praxis zu einem zu grossen Teil der Steuerung des Gesundheitswesens für die Politik dienen. Ist das der gewollte Effekt des Regulators?
Ob gewollt oder nicht, das Gesundheitswesen mit dessen Akteuren nimmt diesen Zusatzaufwand und die Aufgabenverzerrung mit dem Ressourcenverschleiss in Kauf. Dafür hat die Schweizer Psychiatrie ein einheitliches Finanzierungssystem erhalten. Dieses soll Kostentransparenz und Vergleichbarkeit in der aufwandbezogenen Abgeltung zulassen. Es soll ein Lernen voneinander bei den Behandlungsansätzen ermöglichen, und es soll den Wettbewerb fördern (den es im föderalistischen Umfeld allerdings nicht wirklich gibt und der durch viele Hintertüren verhindert wird). Die Kosten sollen damit kontrolliert und Steuer- und Prämienzahlende sollen entlastet resp. zumindest nicht stärker belastet werden. Dabei müssen Patientinnen und Patienten in Kauf nehmen, dass ihr Gesundheitspersonal, in einem Gesundheitssystem, das 2018 rund 82 Milliarden CHF gekostet hat, weniger Zeit für sie hat. Stellt sich hier nicht die Frage, warum es mit einem derartig grossen Wirtschaftsvolumen nicht möglich ist, mehr Leistung statt Administration ins System, bzw. an die Patienten, zu bringen?
Bevor wir beschrittene Wege zementieren, braucht es eine fundierte Evaluation, was die Einführung der SwissDRG-Systeme dem Gesundheitswesen und in erster Linie denjenigen gebracht hat, die davon profitieren sollen, nämlich den Bürgerinnen, Bürgern und Patientinnen, Patienten. Dann ist auch die Beurteilung freier von Spekulationen.
1 Unia-Umfrage bei Auszubildenden in der Pflege, Resultate und Hintergründe in Kürze: Medienmitteilung, 8.9.2015
2 Bruno Trezzini, Beatrix Meyer, Melanie Ivankovic , Cloé Jans, Lukas Golder: Der administrative Aufwand der Ärzteschaft nimmt weiter zu, Repräsentative Befragung der Ärzteschaft im Auftrag der FMH, Schweizerische Ärztezeitung 2020; 101 (1–2): 4–6
Output messen, agil sein, Systeme anpassen
Wir sollten den Mut haben, Entscheidungen regelmässig zu hinterfragen und den Output zu messen. Und wir sollten auch agil genug sein, Systeme anzupassen oder zu korrigieren, wenn der Output nicht stimmt. Was dient letztendlich dem Ziel, die Gesundheitskosten besser zu steuern und dabei keine Einbussen bei der Qualität zu verursachen? Im Moment sind wir daran, das Kind mit einem hochkonzentrierten Administrativbad auszuschütten. Die bevorstehende Herausforderung für alle Akteure und Entscheidungsträger besteht darin, am richtigen Ort zu administrieren und zu regulieren, ohne dabei alles über den gleichen Kamm zu scheren.
Spannend wird sein, ob sich die These bestätigt, dass die Psychiatrie im heutigen Setting der Datengenerierung mit TARPSY überadministriert ist. Das hiesse, dass wir also für den Datenerhebungsaufwand keinen adäquaten Nutzen daraus ziehen würden und in der Psychiatrie weniger mehr wäre. Da Standardisierungen von Behandlungsansätzen mit entsprechendem Outcome in der Psychiatrie weit weniger möglich sind als zum Beispiel in der Chirurgie, lassen sie sich auch nicht mit somatischen Behandlungsprozessen vergleichen und mit den gleichen Systemen bewirtschaften. Um konkrete Aussagen machen zu können, müssen noch ein paar Praxisjahre verstreichen, in denen wir uns weiterhin mit den bestehenden Nebenwirkungen befassen müssen. Auf der Seite der Leistungserbringer ist bis jetzt also in erster Linie ein erheblicher Mehraufwand entstanden. Es bleibt zu beweisen, dass irgendwo im System früher oder später ein entsprechender messbarer qualitativer Mehrwert entsteht.
Wir haben die Aufgabe, auch in Zukunft gemeinsam mit den besten Fachkräften für die Bevölkerung den Zugang zu einem qualitativ top funktionierenden Gesundheitswesen zu gewährleisten. Das schaffen wir nur, wenn wir ganzheitlich denken und handeln, unsere Entscheidungen kritisch hinterfragen und kooperativ Lösungen erarbeiten.
Nanda Samimi
CEO,
Forel Klinik