Erkenntnisse aus der Covid-19-Pandemie in der Psychiatrie

Das zweite Jahr der Covid-19-Pandemie gestaltete sich in der Psychiatrie nicht anders herausfordernd als in der Somatik. Die ambulanten Angebote waren unmittelbarer durch Mindererträge betroffen, weil es stetig zu kurzfristigen krankheitsbedingten Absagen der Konsultationen kam. Diese Ausfälle liessen sich nicht kompensieren. Die stationären Angebote waren hingegen durchgehend sehr gut ausgelastet. Zusatzkosten ergaben sich weiterhin durch die immer noch nötigen Massnahmen, welche die Gesundheitsdirektion den Einrichtungen das ganze Jahr strikter auferlegt hat, als es für die allgemeine Öffentlichkeit und andere Branchen galt. Das pandemische Durchlaufen der Omikronwelle hat unter Einhaltung der Isolationszeiten zu gehäuften Personalausfällen geführt, was in gewissen Teams der Häuser zwischenzeitlich zu einem kritischen Personalengpass führte. Dennoch konnten dank der Flexibilität des Personals die Angebote grossmehrheitlich aufrechterhalten werden.

Welche positiven Erkenntnisse ziehen Sie aus den Erfahrungen bei der Covid-19-Bewältigung?

Positive Erkenntnisse bestehen vor allem darin, dass sich ein Anteil an Neuerungen, die aufgrund von Pandemiemassnahmen in den Alltag eingeflossen sind, bewährt hat und künftig weitergeführt wird. So haben sich zum Beispiel digitale Behandlungsformen durchgesetzt. Diese Entwicklungen wären vielleicht ohne Pandemie gar nicht zustande gekommen oder hätten sich nicht gleich deutlich etablieren können. Für die gute Bewältigung war vor allem die unermüdliche Koordination aller Teilnehmenden wichtig. Dabei hat der VZK eine essenzielle Rolle in der Taskforce der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich gespielt. Er hat als Bindeglied zu den Spitälern sehr entlastend gewirkt und vor allem eine rasche und zeitnahe Information sichergestellt. So war die Mitsprache der psychiatrischen Kliniken, obwohl nicht alle durch den kantonalen Verband vertreten werden, ebenfalls einbezogen. In der Krise haben sich Grenzen verschoben, um in der Sache gemeinsam zu bestehen. Das ist eine gute Erfahrung.

Welche Herausforderungen haben sich bei der Covid-19-Bewältigung gezeigt?

Die Herausforderungen nach dem ersten Jahr mit einer akuteren und sehr volatilen Vorgehensweise haben sich 2022 mehr hin zu einem On-/Off-Massnahmenmanagement entwickelt. Für die Führung war es nicht immer einfach, Personal und Patientinnen und Patienten von den Schutzvorgaben – ob umsetzen oder absetzen – zu überzeugen. Die zwischenmenschlichen gewohnten Kontaktpunkte in einer Unternehmenskultur sind verloren gegangen, neue Mitarbeitende kennen den Klinikalltag nicht im Normalzustand. Die verminderte Kommunikation in der persönlichen Form, als wichtiger Bestandteil der Zusammenarbeitspflege, hat zu einer Teilentfremdung über die Teamgrenzen hinaus geführt. Die Rückkehr zu den ursprünglichen Formen fühlt sich wie die Neulancierung von Kommunikationsinstrumenten an.

Wie haben Sie persönlich die Covid-19-Pandemie erlebt?

Die Aufgabe des Krisenmanagements war sehr spannend und bereichernd. In solchen Situationen sind die Normen der gewohnten Umfeldfaktoren aufgeweicht. Es gelten neue Zielvorgaben mit entsprechendem Umsetzungsdruck. Und dennoch muss das Vertrauen in die Führung aufrechterhalten bleiben. Die Unsicherheit in Krisen ist immens. Die Herausforderung besteht darin, rasch eine Sicherheitsinsel in der Unsicherheit zu schaffen. Wenn diejenigen, die trotz aller Vorgaben und Infektionsrisiken jeden Tag in die Institutionen zur Arbeit kommen mussten, die Arbeitsplätze als sicher empfunden haben und ihren Ängsten begegnet werden konnte, so ist viel erreicht. Nie zuvor wurde für mich so deutlich wie in der Pandemie spürbar, wie systemrelevant wir in dem sind, was wir täglich in einer Selbstverständlichkeit tun. Wir sind das Gesundheitswesen. Wir sind die Versorgung für die Menschen – rund um die Uhr. Das sollte uns allen genug wert sein.

Gedanken zur Zukunft:
Umsetzungsvorbereitungen für das neue Anordnungsmodell (AOM)

Der Bundesrat hat mit einer Gesetzesanpassung mit Umsetzung ab spätestens 1. Januar 2023 den Wechsel vom Delegationsmodell der Psychotherapie zum Anordnungsmodell veranlasst. Dies zieht vor allem Fragen bei den niedergelassenen Psychiatern zur Neuorganisation der Zusammenarbeit mit den psychologischen Psychotherapeuten nach sich. Das AOM stellt die Modernisierung der interprofessionellen Zusammenarbeit dar und ermöglicht den psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten, neu selbstständig innerhalb der OKP direkt mit den Krankenkassen abzurechnen.

Die Kantone haben die Kompetenz und Verantwortung zur Zulassung. Da die nicht ärztliche Berufsgruppe nicht unter KVG Art 55a fällt, besteht keine Handhabe, die Zulassung zu beschränken. Dies hat bereits zu einer Vielzahl von Bewilligungsanträgen geführt. Durch ein deshalb rasant wachsendes Angebot von niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die mit der aktuellen Ausbildung keine Fachkompetenzen aufweisen, um schwere psychische Krankheitsbilder behandeln zu können, befürchten die Fachvertretungen aus dem niedergelassenen und dem institutionellen psychiatrischen Bereich, dass es deswegen zu einer Mengenausweitung kommt. Denn der effektive Bedarf liegt – und dort hat sich der Bundesrat die Ziele zur psychiatrischen Versorgungsverbesserung auch gesetzt – bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, bei der Notfall- und Krisenintervention sowie geografisch in ländlichen Regionen.

Dies hat die institutionelle Psychiatrie im Berichtsjahr stark beschäftigt und wird sie 2023 auch noch stark fordern. Auch wenn in den Institutionen selbst die neue gesetzliche Vorgabe die Organisation der interprofessionellen Zusammenarbeit und die Abrechnungsmodalitäten nicht tangiert, wird sich die Veränderung in der niedergelassenen Versorgungslandschaft auf die Spitalambulatorien auswirken. Das Patientenprofil wird einen Shift erfahren, denn schwere Fälle werden im Praxenmarkt nicht vermehrt aufgenommen.

Nanda Samimi

CEO,
Forel Klinik,
Ellikon an der Thur